Fast unwirklich steht es da, auf einem riesigen Platz mitten im Dorf, umgeben von einem offensichtlich dazugehörenden Gebäudeensemble: Das Mestliner Kulturhaus. In seiner klassizistischen Anmutung will es nicht so recht zu diesem kargen Flecken Erde im Hinterland Mecklenburgs passen, aber damals, als es gebaut wurde, hatte man für einen Moment mal groß gedacht …
1952. Die Träume von einem wiedervereinigten Deutschland waren gerade nach zähen Verhandlungen der Alliierten geplatzt. Jetzt galt es, in der jungen DDR mit aller Kraft den Sozialismus aufzubauen. Die Anweisungen für die Neuordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kamen direkt aus dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in Moskau. Der Ausbau der Schwerindustrie und die Kollektivierung kleiner Privatfirmen und Einzelproduzenten standen als erstes auf dem Plan. Das betraf auch die Landbevölkerung. Nachdem unmittelbar nach Kriegsende begonnen wurde, die Großgrundbesitzer zu enteignen, wurden nun die Klein- und Mittelbauern massiv bedrängt. Sie wurden genötigt, den neu geschaffenen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) beizutreten und verloren damit das Verfügungsrecht über ihre Liegenschaften. In der Regel mussten sie ihre Stallungen, Gerätschaften und das Vieh in die LPG einbringen. Steuererleichtungen und Schuldentilgung waren da kaum ein Trost. Es gab Zwangsumsiedlungen und viel böses Blut. Tausende Bauernfamilien flohen mitsamt ihrem Wissen und Können in die BRD. Die Dagebliebenen versuchten das Beste aus der Situation zu machen und packten an. Bei einigen kam sogar so etwas wie Aufbruchstimmung und Hoffnung auf – vielleicht war man gemeinsam ja doch stärker …
Die obersten Genossen schauten in die Zukunft. Wären die Mühen des Anfangs erst einmal vorbei, würde es allen gut gehen, versprachen sie. Alltagssorgen gäbe es dann keine mehr, Arbeit und Freizeit stünden in einem ausgeglichenen Verhältnis. Das hörte sich doch ganz gut an. Da aber auch so ein frischer deutsch-demokratischer Landbürger auf dem Weg in die neue Zeit eher glaubt, was er sieht, beschloss die DDR-Führung, zur Anschauung und als Vorbild schon mal ein perfektes sozialistisches Dorf zu errichten. So entstand das Musterdorf Mestlin.
Von 1954 bis 1957 wurde in der ärmlichen Gemeinde aus-, um- und vor allem neu gebaut. Das Ergebnis war überwältigend: Dort, wo vor ein paar Jahren noch die windschiefen Katen der Tagelöhner standen und lediglich der Gutsherr einen Stromanschluss hatte, glänzte nun im Hier und Jetzt das Zukunftsdorf – mit kompletter Infrastruktur inklusive Stromnetz, Kanalisation, Wasserwerk, Straßen, Gehwegen, Feuerwache und Tankstelle! Alles war auf dem neusten technischen Stand. Neben den Maschinen-Traktoren-Stationen, Ställen und Verwaltungsgebäuden gab es eine Schule und einen Kindergarten, Sportplatz, Post und Sparkasse, ein Ambulatorium mit Pflegeheim, sogar einen Friseur, kleine Läden und eine Gaststätte. Moderne Wohnhäuser warteten auf den Bezug durch die Neu-Mestliner, die hier fortan arbeiten würden.
Optischer Mittelpunkt war der Marx-Engels-Platz mit dem imposanten Kulturhaus, das nach Entwürfen der Schweriner Architektengemeinschaft um Erich Bentrup entstand. Die Planer hatten die Vorgabe, Räume zu schaffen, die sowohl für die Bildungs- und Erziehungsarbeit als auch für vielfältige Freizeitaktivitäten genutzt werden konnten. Dabei sollte der gesellige Aspekt nicht zu kurz kommen – oberstes Ziel war, die kulturelle Kluft zwischen Land und Stadt zu verkleinern. Das gelang eindrucksvoll.
Das Kulturhaus lockte bis zum Zusammenbruch der DDR jährlich über 50.000 Besucher an. Viele kamen aus der näheren Umgebung. Man traf sich bei Klassikkonzerten und Filmvorführungen, amüsierte sich beim Kabarett und den plattdeutschen Abenden und lernte bei Lichtbildervorträgen ferne Länder kennen. Die Bibliothek hielt eine große Auswahl an Büchern, Schallplatten und Kassetten bereit und wurde rege genutzt. Die Theateraufführungen waren so beliebt, dass man Busfahrten organisierte, um die Interessierten aus ihren Dörfern abzuholen und wieder nach Hause zu bringen …
In der hauseigenen Weinstube traf man sich mit seinen Freunden und Kollegen auf ein Bier und freute sich schon Wochen vorher auf die Preisskatturniere und die legendären Boxveranstaltungen, wo die Staffel des SC Traktor Schwerin unter ihrem großen Trainer Fritz Sdunek um nationale und internationale Titel kämpfte. Freitag und Samstag war Tanz – nicht selten ging es direkt vom Danz op de Deel zur Arbeit in den Stall …
Fernsehen und Rundfunk waren im Kulturhaus gern zu Gast – man schätzte die gute Stimmung und die ausgezeichneten technischen Bedingungen vor Ort. Die DDR-Größen aus der Rock-, Pop-, Schlager- und Volksmusikszene gaben sich die Klinke der Künstlergarderobe in die Hand und begeisterten ein ums andere Mal ihr Publikum.
Aber die Mestliner saßen nicht nur im Zuschauerraum, sondern waren auch selbst auf der Bühne aktiv: mit ihrer Theatergruppe, der Blaskapelle und dem Fanfarenzug oder als Mitglied der Tanzgruppe. Es gab sogar zwei dorfeigene Beatkapellen: Die Amigos und Electrics … Ob jung oder alt, jeder konnte sich hier in seiner Freizeit entfalten: als Modelleisenbahner oder Philatelist, Fotograf, Maler und Filmemacher, im Tonstudio, Handarbeits- und Schreibzirkel …
Viele gesellschaftliche und persönliche Ereignisse sind eng mit dem Kulturhaus verbunden. Hier fanden die Einschulungen und Abschlussprüfungen der Polytechnischen Oberschule statt, wurde die Jugendweihe begangen, in den Tanzstunden Walzer und Discofox geübt. Hier verliebte und verlobte man sich – und für den Fall, dass es ernst wurde, gab es sogar ein Standesamt … Im 400 Mann fassenden Großen Saal wurden die Betriebs- und Parteiversammlungen durchgeführt, im kleineren Hörsaal die Schulungen der LPG. Gefeiert wurde, wann immer es einen Anlass gab. (Oft.)
Irgendwann machte sich auch in Mestlin die Mangelwirtschaft bemerkbar. Da der DDR die nötigen Devisen fehlten, um auf dem Weltmarkt mitzuhandeln, kam es immer wieder zu Lieferengpässen der einfachsten Dinge. Es musste verstärkt improvisiert und organisiert werden – auch im Kulturhaus. Dem Engagement und Einfallsreichtum von Leitung und Mitarbeitern ist es zu verdanken, dass es zu keinerlei Qualitätsabfall in der Programmgestaltung kam …
Trotz alledem wuchs an allen Ecken und Enden der Frust. Parteitagsreden und Wirklichkeit klafften von Jahr zu Jahr weiter auseinander – obwohl ja nach wie vor alles irgendwie seinen sozialistischen Gang ging … Dann kam das Jahr 1989. Die Ungarn zerschnitten ihre Grenzzäune, in Prag besetzten ausreisewillige Ostdeutsche die westdeutsche Botschaft. Die Mauer fiel und nicht nur den Mestlinern kam der Staat abhanden. Von nun an war nichts mehr wie es war – vieles wurde besser, bei weitem nicht alles gut.
Ein Großteil der Dorfbewohner verlor die Arbeit – jeder musste zusehen, wie er nun klarkam. An Kultur dachte da kaum einer, trotzdem versuchten die Gemeindevertretung und der damalige Leiter, das Kulturhaus in die neue Zeit zu retten, was letztendlich scheiterte. Man wurde von einem skrupellosen Investor hereingelegt, der das Gebäude zu einem Disco-Palast umbauen ließ. Aus dessen Sicht funktionierte die Sache: Die Massen strömten herbei, die Kassen wurden Woche für Woche gefüllt. Die Gemeinde sah davon trotz aller Absprachen und Verträge keinen Pfennig – der Investor verschwand mit vollen Taschen. Das Ganze wiederholte sich, wenn auch die Details variierten … Zurück blieb 1996 ein durch Beach-Parties, Schlammcatchen und Vandalismus ruinierter Bau, dessen Einrichtung mitsamt der Technik geplündert oder verwüstet war …
Denen, die das Haus von früher kannten, blutete das Herz. In einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Hoffnung gründeten einige Gemeindebewohner die Arbeitsgruppe „Rettet das Kulturhaus Mestlin“. Sie konnte nur wenig ausrichten, aber immerhin auf die Problematik aufmerksam machen. Von 1997 bis 2004 nahm sich der Verein „Kulturhaus Mestlin e.V.“ der Sache an – ihm sind unter anderem die Beschaffung von Fördermitteln und damit die Hausentkernung, vielfältige Reparaturmaßnahmen und eine umfassende Dachsanierung zu verdanken, so dass wieder erste Veranstaltungen und Feste stattfinden konnten. Ihm folgte 2008 der Verein „Denkmal Kultur Mestlin e.V.“, der bis heute aktiv ist. Die Mitglieder setzen das Werk der Vorgänger fort und investieren ehrenamtlich Zeit und Arbeitskraft, damit die Wiederherrichtung und kulturelle Belebung des Hauses weiter voranschreitet – mit Erfolg: So fanden in den Räumlichkeiten Konzerte, Lesungen, die Norddeutschen Boxmeisterschaften und überregional viel beachtete Kunstausstellungen statt. Es gibt sogar wieder eine Theatergruppe einheimischer Kinder und Jugendlicher! Das, und der Publikumsmagnet hinterland mit seinen bislang 10.000 Besuchern, lassen erahnen, wie es zu Glanzzeiten im Kulturhaus zugegangen sein muss …